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Mathematik macht Moleküldynamik sichtbar

Mit einem cleveren Rechenverfahren können Forscher die ultraschnellen Bewegungen von Molekülen und andere dynamische Prozesse im Nanokosmos auf eine billiardstel Sekunde genau verfolgen. Einem internationalen Team ist damit ein entscheidender Schritt in der Analyse dynamischer Prozesse gelungen. Ihre Arbeit, die jetzt im Fachjournal „Nature“ erscheint, eröffnet einen vergleichsweise einfachen Weg, elementare Reaktionsabläufe mit einer sehr präzisen Zeitauflösung zu bestimmen.

Das Forscherteam um Projektleiter Professor Abbas Ourmazd von der Universität von Wisconsin in Milwaukee (USA) entwickelte dafür ein Rechenverfahren (Algorithmus), mit dessen Hilfe sich aus Daten von Experimenten an sogenannten Freie-Elektronen-Lasern (FEL) durch geschicktes Extrahieren neue Informationen gewinnen lassen. Professor Robin Santra (Universität Hamburg, DESY, CFEL) und seine Kollegen konnten die Ergebnisse durch quantenmechanische Simulationen bestätigen.

Dank des neuen Algorithmus lässt sich der Zeitstempel klar erkennen. Bild: Allie Kilmer/University of Wisconsin – Milwaukee

„Die Methode hat ein unglaubliches Potenzial“, erläutert Santra, der auch Mitglied im Exzellenzcluster CUI ist. Sie ermögliche völlig neue Einblicke in den Ablauf zahlreicher ultraschneller Reaktionen in Chemie und Biochemie bis hin zu elektrochemischen Anwendungen oder industriellen Prozessen. Bereiche, in denen Wissenschaftler bisher über den zeitlichen Ablauf nur spekulieren konnten, was auf mikroskopischer Ebene passiert. „Dynamische Zeitmessungen an FELs unterliegen einer extremen Unschärfe“, erklärt Santra. „Diese neue Datenanalyse erhöht die Genauigkeit um einen Faktor 300 – das ist verblüffend.“Chemische Reaktionen und Biomolekülbewegungen laufen unvorstellbar schnell ab und entziehen sich unserem natürlichen Sehen. Sie geschehen im Bereich von Femtosekunden, also billiardstel Sekunden. Bisher gibt es keine effektiven Wege, solche molekularen Prozesse detailliert zu beobachten. Moderne Freie-Elektronen-Röntgenlaser ermöglichen zwar Belichtungszeiten im Bereich von Femtosekunden, mit ihnen lassen sich jedoch keine unmittelbaren Filme von dynamischen Prozessen machen, lediglich eine Reihe von Momentaufnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten des untersuchten Prozesses.

Der Aufnahmezeitpunkt der Einzelbilder lässt sich allerdings nicht absolut exakt festlegen. Der Grund dafür: Wollen Forscher eine Reaktion untersuchen, lösen sie diese durch einen optischen Laserblitz aus, ein kurz darauf folgender Röntgenlaserblitz schießt einen Schnappschuss davon. Danach ist die Probe jedoch zerstört, und die Reaktion muss in einer neuen, nahezu identischen Probe noch einmal ausgelöst werden. Der Röntgenlaser blitzt jetzt zu einem etwas späteren Zeitpunkt der Reaktion – und so geht es immer weiter. Als Ergebnis erhalten die Forscher unzählige Momentaufnahmen, die sie anschließen aneinanderreihen müssen wie in einem Daumenkino. Allerdings ist die exakte zeitliche Abfolge der Röntgenlaser-Bilder nicht immer klar erkennbar, Experten bezeichnen diese Genauigkeitsschwankung als Jitter (engl. für „Fluktuation“ oder „Schwankung“). Dieser Jitter kann zu einer falschen Sortierung der Einzelbilder im Daumenkino führen.

Zwölf Millionen Dimensionen

„Die zeitliche Unschärfe ist in vielen Bereichen der Wissenschaft ein Fluch“, sagt Ourmazd. „Man hat zwar eine Menge Daten, aber ohne genauen Zeitstempel.“ Denn damit die Momentaufnahmen den Reaktionsverlauf mit einer Genauigkeit von Femtosekunden dokumentieren können, müssen optischer Laser und Röntgenlaser extrem präzise aufeinander abgestimmt sein. „Alle uns bisher bekannten experimentellen Lösungen haben es nicht geschafft, eine Zeitauflösung von besser als etwa 14 Femtosekunden zu liefern, wobei die meisten lediglich 60 Femtosekunden oder länger erreichen“, sagt Santra.

Daher wählten Ourmazd und sein Team einen anderen Weg: Sie entwickelten einen mathematischen Algorithmus, mit dessen Hilfe sie aus vorhandenen Daten Informationen mit einer zeitlichen Genauigkeit von einer Femtosekunde extrahieren können. Die einzelnen Schnappschüsse mit nicht scharf definiertem Zeitstempel werden dazu mathematisch als einzelne Punkte in einem hochdimensionalen Raum dargestellt – in der jetzt veröffentlichten Arbeit hat dieser Raum rund zwölf Millionen Dimensionen. Mit Hilfe mathematischer Mustererkennungsprozesse reduzieren die Forscher dann die Zahl der Dimensionen, indem sie gekrümmte mehrdimensionale Flächen suchen, auf denen die Punkte liegen. Ziel ist es dabei, schließlich eine – eindimensionale – Kurve zu finden, auf der alle Punkte liegen. Denn wenn sich die einzelnen Punkte nur durch die Änderung eines Parameters unterscheiden, in diesem Fall der Zeit, dann müssen sie eine Kurve im betrachteten Raum bilden. Gelingt es, diese Kurve zu finden, hat man die Punkte zeitlich geordnet.

In der jetzt veröffentlichten Studie untersuchten die Wissenschaftler mit ihrem Algorithmus Daten einer Forschergruppe um Stanford-Professor Philip Bucksbaum. Bucksbaum und sein Team hatten im Jahr 2010 mit dem Freie-Elektronen-Röntgenlaser LCLS (Linac Coherent Light Source) am SLAC National Accelerator Laboratory in Kalifornien (USA) die Dynamik von doppelt elektrisch geladenen Stickstoffmolekülen erforscht. Diese ungewöhnlichen Stickstoff-Ionen erzeugten die Wissenschaftler durch den Beschuss mit Röntgenstrahlung. Aber auch in der Atmosphäre entstehen diese Ionen durch die Wirkung der energiereichen kosmischen Strahlung, die beständig aus dem Weltall auf die Erde einprasselt. Das Ergebnis des Experiments: Eine große Anzahl von Schnappschüssen unterschiedlicher Schwingungszustände intakter und auseinandergebrochener Stickstoffmoleküle, deren zeitliche Reihenfolge jedoch nicht klar erkennbar war. Ourmazd und seinen Kollegen gelang es nun mit Hilfe ihres Algorithmus, die Schwingungsbewegungen der Moleküle mit einer Genauigkeit von einer Femtosekunde zu bestimmen. Damit konnten sie das dynamische Verhalten der Stickstoffmoleküle mit einer um den Faktor 300 verbesserten Präzision rekonstruieren.

Revolutionäre Analysetechnik

Santra und sein Team am CFEL führten anschließend die quantenmechanische Berechnung der untersuchten Prozesse durch und bestätigten die erzielte Genauigkeit von einer Femtosekunde. „Das schließen wir daraus, dass die extrahierten Schwingungsperioden mit exakt dieser Genauigkeit mit unseren quantenmechanischen Rechnungen übereinstimmen“, sagt Santra. Und nicht nur das: Erst durch die Simulationsrechnungen von Santras Team konnten die Forscher überhaupt sagen, woher die im Experiment beobachteten Schwingungen kamen, was sie bedeuten, sowie wann und warum die doppelt geladenen Stickstoffmoleküle auseinanderbrechen.

Mit der neuen Datenanalysetechnik lassen sich nicht nur zukünftige Experimente präziser auswerten. Auch bereits vorhandene Messungen können neu analysiert werden. Einzige Voraussetzung: Die Menge der Daten muss ausreichend sein. Das sei bisher vor allem bei der Untersuchung dreidimensionaler Strukturen problematisch, erläutern die Forscher. Wie beispielsweise in der Kristallographie, wo schon für ein Einzelbild eine Unmenge Röntgenschüsse nötig sind, um einen statistisch signifikanten Datensatz zu erhalten. „Vielleicht wird dieses Problem zukünftig durch den European XFEL gelöst“, sagt Santra. Der 3,4 Kilometer lange Freie-Elektronen-Röntgenlaser, der derzeit im Hamburger Westen gebaut wird, erzeugt noch 100 mal mehr Lichtblitze pro Zeiteinheit als bisherige FELs.

„Diese Methode hat das Zeug, die Forschung an FELs zu revolutionieren“, sagt Santra. Und sie hat einen großen Vorteil: Sie arbeitet nicht mit aufwendigen technischen Lösungen, sondern setzt stattdessen sehr geschickt mathematische Operationen ein. „Dieser Weg ist nicht nur einfacher, sondern auch noch erfolgreicher, weil die Ergebnisse viel exakter sind“, sagt Santra. Der Physiker sieht zahlreiche Anwendungsgebiete. „Die Methode lässt sich als sehr viel präziseres Werkzeug überall dort einsetzen, wo man wissen möchte, wie sich Materie verhält – dynamisch gesehen auf kurzen Zeitskalen.“ Darunter etwa Enzym-Reaktionen aus der Biologie und der Chemie, aber auch die Erforschung ungewöhnlicher Materiezustände, wie sie im Inneren von Planeten und Sternen auftreten. Projektleiter Ourmazd geht noch weiter und hofft, mit seinem Algorithmus eine Vielzahl von Zeitreihen wie etwa vergangene klimatische Ereignisse präziser bestimmen zu können.

 

Originalveröffentlichung:
R. Fung, A.M. Hanna, O. Vendrell, S. Ramakrishna, T. Seideman, R. Santra and A. Ourmazd
„Dynamics from noisy data with extreme timing uncertainty“
Nature, 2016
DOI: 10.1038/nature17627