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Atomballett in Zeitlupe

Mithilfe einer Art Molekülkamera hat ein internationales Team, an dem auch Forscher des Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie am CFEL in Hamburg beteiligt waren, das rasend schnelle Ballett verfolgt, das Atome bei Strukturänderungen in Molekülen vollführen. Mit einer vergleichsweise kompakten, effizienten und kostengünstigen Technik beobachten die Forscher detailliert und in Zeitlupe, wie sich die winzigen Atome bei einem molekularen Übergang in einem komplexen Material bewegen.

Die Chemie arbeitet heute immer noch weitgehend mit unbewegten Bildern. Zwar kann sie mit immer feineren Methoden sehr genaue Strukturbilder von Molekülen ermitteln. Doch es sind nur starre Rekonstruktionen der Atompositionen, die den Zustand zum Beispiel vor und nach einem chemischen Prozess zeigen. Mit theoretischen Modellen ließen sich zwar zumindest die Bewegungen kleiner Moleküle während einer chemischen Umwandlung beschreiben. Mit wachsender Zahl der beteiligten Atome explodiert aber auch die Zahl der Freiheitsgrade, mit denen sich die Teilchen in Reaktionen bewegen können. Eine genaue theoretische Berechnung vieler chemischer Systeme überfordert daher jeden Supercomputer.

Mit ihrer Technik können die Hamburger Forscher Moleküle dagegen filmen und so das schnelle Treiben eines Atomballetts im Detail zeigen. Um die Filmkamera für chemische Prozesse zu entwickeln, mussten CUI-Professor und Direktor R. J. Dwayne Miller und seine Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie gewaltige experimentelle Herausforderungen meistern: Atombewegungen laufen extrem schnell, auf der Zeitskala von einigen Zehn oder sogar Hundert Femtosekunden, ab – das ist die Zeit, die Licht braucht, um den Durchmesser eines Haares zu durchqueren. Die zweite Herausforderung lag in der Winzigkeit der Atome. Dazu muss man mindestens Zehntelnanometer auflösen können – ein Nanometer ist ein Milliardstel Meter. „Würde man einen Apfel bis auf den Durchmesser der Mondumlaufbahn vergrößern, dann wäre eines seiner Atome so groß wie der ursprüngliche Apfel“, veranschaulicht Stuart Hayes das Problem. Der schottische Forscher leitet in Millers Abteilung ein Team, dem gerade das Video eines chemischen Atomballetts gelungen ist.

Die Pump-Probe-Technik war nur wenigen Forschungsteams zugänglich

Nun gibt es seit rund dreißig Jahren Aufnahmetechniken für schnelle Atombewegungen, die das Gebiet der Femtochemie begründet haben. Bei der einfachsten Pump-Probe-Technik startet ein erster Pump-Laserblitz den chemischen Prozess, zum Beispiel eine Reaktion. Ihm folgt ein zweiter Probe-Laserblitz, der mit seiner ultrakurzen Femtosekundendauer den aktuellen Zustand wie ein Schnappschuss erfasst. Durch Variieren der Zeitspanne zwischen beiden Blitzen erhalten Forscher die Einzelbilder eines Zeitlupenvideos.

Allerdings hat die Methode mit zwei Laserblitzen einige Nachteile. Die Wellenlänge des Lichts muss sehr kurz sein, damit der zweite Laserblitz einzelne Atome im Bild auflösen kann. Normale Laser erreichen solche Wellenlängen vom extremen Ultravioletten bis in den harten Röntgenbereich hinein nicht. Ein weiteres Problem ist die notwendige Helligkeit des zweiten Lichtblitzes. „Je kürzer die Aufnahmezeit ist, desto hellere Blitze braucht man“, erklärt Miller. Dies zusammengenommen erfordert große, teure Anlagen, sogenannte Freie-Elektronen-Laser. Schon ihre geringe Zahl bietet nur relativ wenigen Forschungsteams einen zeitlich begrenzten Zugang.

Die Idee: Femtosekunden-Elektronenblitze statt Laserpulse

Miller kam deshalb vor Jahren auf die Idee, die Pump-Probe-Methode abzuwandeln. Er ersetzt in seiner Filmkamera für Molekülbewegungen den zweiten Laserblitz durch einen Femtosekunden-Elektronenblitz. Elektronen bieten den Vorteil, dass sie die Lage der Atome in Molekülen direkt abbilden können. Als Quantenteilchen besitzen sie wie Lichtquanten Welleneigenschaften. Doch ihre Wellen sind schon bei geringer Bewegungsenergie so kurz, dass sie problemlos einzelne Atome erfassen und abbilden können. Erzeugen lassen sie sich auf einfache Weise in kompakten Geräten. „Das sind echte Tischexperimente“, sagt Stuart Hayes.

„Trotzdem sind unsere Elektronenkanonen so hell, dass sie die molekulare Struktur in einem einzigen Schuss einfangen können“, ergänzt Miller. Viele Kollegen hätten lange angezweifelt, dass die Methode mit Elektronen funktioniert. Elektronen stoßen sich nämlich wegen ihrer elektrisch gleichen Ladung heftig gegenseitig ab. Dadurch droht eine ursprünglich kompakte Wolke aus einigen tausend Elektronen auf dem Weg zur Probe auseinander zu fliegen. Sie droht die Probe zu lange zu beleuchten, sodass die kurze Blitzzeit, die für eine Femtosekunden-Auflösung nötig ist, nicht erreicht würde. Millers Gruppe löste dieses Problem, indem sie die Flugzeit der Elektronenwolke verkürzte, die Elektronenzahl optimierte und eine Art Optik für Elektronen einsetzte.

Ein Material, das sich zwischen Isolator und Metall umschalten lässt

Figure Neutral dimer dynamics neu beschriftet

Die Einzelbilder des Films zeigen auf das Atom genau, wie sich Moleküle innerhalb von einigen 100 Femtosekunden bewegen. In der Illustration links ist die anfängliche Struktur dargestellt: grau – Platin, schwarz – Kohlenstoff, gelb – Schwefel. © Science 2015/MPI für Struktur und Dynamik der Materie

Mit dieser Technik haben die Hamburger Wissenschaftler nun ein neues molekulares Material untersucht: Me4P[Pt(dmit)2]2, das kürzlich am japanischen RIKEN-Forschungsinstitut entwickelt wurde. Diese Substanz gehört zu einer interessanten Materialfamilie, deren elektrische Eigenschaften sich zwischen isolierend, metallisch leitend und in einigen Fällen sogar supraleitend umschalten lassen. Das Umschalten geschieht durch Temperatur oder Druck und wird Phasenübergang genannt. Phasenübergänge kennen wir im Alltag zum Beispiel von Eis, das mit wachsender Temperatur zu Wasser schmilzt. Japanische Wissenschaftler um Tadahiko Ishikawa vom Tokyo Institute of Technology beobachteten kürzlich Folgendes: Me4P[Pt(dmit)2]2 kann unter Laserlicht seine Eigenschaften genauso wechseln wie in einem durch eine Temperaturänderung verursachten Phasenübergang. Dabei wird es von einem elektrischen Isolator zu einem Metall.

Diese Fotoschaltung der Materialeigenschaften können die Forscher nur genau verstehen, wenn sie im Detail verfolgen können, wie sich die einzelnen Atome in den Molekülen verhalten. Genau diese Bewegung haben die Hamburger Wissenschaftler nun erfolgreich abgelichtet. Dabei zeigte sich, dass nur bestimmte Gruppen von Atomen im Kollektiv wenige, koordinierte Schlüsselbewegungen machen, um die Eigenschaften des Materials zu verändern. Genau das ist für Miller die entscheidende Erkenntnis: Die vielen zigtausend Möglichkeiten reduzieren sich auf ein paar einfache, grundlegende Tanzfiguren des atomaren Balletts.

 

Originalpublikation:
Tadahiko Ishikawa, Stuart A. Hayes, Sercan Keskin, Gastón Corthey, Masaki Hada, Kostyantyn Pichugin, Alexander Marx, Julian Hirscht, Kenta Shionuma, Ken Onda, Yoichi Okimoto, Shin-ya Koshihara, Takashi Yamamoto, Cui Hengbo, Mitsushiro Nomura, Yugo Oshima, Majed Abdel-Jawad, Reizo Kato and R.J. Dwayne Miller
Direct Observation of Collective Modes Coupled to Molecular Orbital Driven Charge Transfer
Science, Vol. 350 no. 6267 pp.1501-1505 (2015)
DOI: 10.1126/science.aab3480